Was wollte Eisenstein verfilmen? Es geht um seine Notate zur „Kinofizierung“ des Kapitals. Wie hören sich im Jahr 2008 Texte an, die Karl Marx vor beinahe 150 Jahren geschrieben hat? Es geht um eine Annäherung über das Ohr. Wo liegt die Grenze zwischen Antike und Moderne, wenn es um Ideologie geht? 1929? 1872? Früher? Wie würde das Geld, wenn es denken könnte, sich erklären? Kann das Kapital „Ich“ sagen? Dietmar Dath über den Kerninhalt des berühmten Buches von Marx. Sophie Rois über Geld, Liebe und Medea.
Der Plan
Erschöpft saß er da. Wir schreiben den 12. Oktober 1927. Am Tag zuvor hat er die Dreharbeiten für seinen Film Oktober abgeschlossen. Er sitzt auf 60 000 Metern Material, d. h., er verfügt über 29 Stunden belichtetes Filmnegativ. Das muß er nun sortieren und kürzen. Die Anstrengung, einen Film zu drehen, ist geringfügig gegenüber der Strapaze, ihn zu montieren. Sergej Eisenstein steht also vor einem BERG VON ARBEIT. An diesem Abend beschließt er, Das Kapital "nach dem Szenario von Karl Marx“ zu verfilmen. Mit „Szenarium“ meint er das Buch selbst. In den folgenden zwei Jahren verfolgte Eisenstein diesen Plan, den ihm keiner finanzieren wollte: das Zentralkomitee nicht, der Gaumont-Filmverleih in Paris und die Tycoons in Hollywood ebenfalls nicht. Am 30. November 1929 sitzt er in Paris James Joyce gegenüber. Joyce, praktisch blind, spielt ihm auf dem Grammophon seine Lesung aus Ulysses vor; selbst kann er nicht mehr lesen. Eisenstein will entweder – parallel zu Das Kapital – Joyce' Buch verfilmen oder aber Das Kapital nach der literarischen Methode des Ulysses umsetzen.
„KINEMATOGRAFISCH IST JENER FILM, DESSEN SUJET SICH IN ZWEI WÖRTERN WIEDERGEBEN LÄSST.“
Ein imaginärer Steinbruch: Eisensteins Forderungen an den „neuen Film“
Ich sehe den großartigen Plan Eisensteins, Das Kapital zu verfilmen, als eine Art IMAGINÄREN STEINBRUCH. Man kann darin Bruchstücke finden, man kann aber auch entdecken, daß darin überhaupt nichts zu finden ist. „Das Unverfilmte kritisiert das Verfilmte“.
Ein solch respektvoller Umgang mit den Plänen eines Meisters wie Eisenstein ähnelt den Grabungen auf einer antiken Fundstelle; man erfährt mehr über sich selbst, als man an Scherben und Schätzen findet. Es fällt auf, daß die besten Marx-Texte ganz ähnlich unter Massen von historischem Geröll verbuddelt sind. Gräbt man danach, stößt man vor allem auf Werkzeuge. Die analytischen Gerätschaften und Maschinen, die der Theorieingenieur Marx baute, sind von äußerster Seltenheit. Noch verblüffender sind jedoch die Vorschläge, die Sergej Eisenstein in seinen Notaten für die Zukunft des Filmemachens macht:
• Er schlägt vor, die lineare Handlung völlig aufzugeben. Es sei, sagt er, notwendig, Filme wie Kugeln (also wie Sterne und Planeten, die sich in einem Raum frei bewegen und aus deren Gravitation „kugelförmige Dramaturgien“ entstehen) herzustellen. Und Kugelbücher! Das wären in der Praxis gigantische Kommentarwerke, ähnlich dem Babylonischen Talmud.
• Man müsse, so Eisenstein weiter, die filmische Montage ersetzen, indem man Wirkungen nachahmt, die den Obertönen in der Musik entsprechen. Bilder, die simultane Geschehnisse, Gleichzeitigkeiten im Kopf des Zuschauers anregen, d.h. auf die Vielfalt, die solche Menschenköpfe von sich aus hervorbringen, mit den Mitteln des Films antworten. Wie in der seriellen modernen Musik, z. B. in Zwölftonkompositionen, befestigt Eisenstein die Autonomie des Zuschauers (gegenüber der Überredungswucht des Films) und die des Materials (gegenüber dessen Verarbeitung durch den Kunstverstand). Menschen, sagt Eisenstein, sind nicht einfach, sondern komplex.
• Warum, fragt Eisenstein unter dem Leidensdruck, aus 60 000 Metern ihm teuren Rohmaterials 2000 Meter Gebrauchsfilm montieren zu müssen, gibt es keine Vorführungen der Rohmaterialien selbst? Wahr ist, daß solche Vorführungen, wann immer man sie in der Filmgeschichte versucht hat, große Erfolge wurden. Aber wie selten geschah das! Wie viel interessanter als die Rhythmusvorlage Symphonie einer Großstadt von Walter Ruttmann wäre für uns das unverschnittene, vollständige Originalmaterial, ein Spiegel des Berlins von 1927? Das Kino, behauptet Eisenstein, werde mißverstanden als Treibhaus der Wahrnehmung. Man müsse jedoch zurück zu einer extensiven Landwirtschaft der Erfahrung.
Wir erleben heute die Inflationierung der wirklichen Verhältnisse. Das Objektive wächst uns über den Kopf, aber wir haben auch Grund, uns vor den Massen an Subjektivem, das dem Bewußtsein entkommen ist, zu fürchten. Mit der Methode und dem Anspruch von Marx ist es gefährlich, sich im Jahr 2013 dieser Wirklichkeit auszusetzen: Man wird mutlos. Man braucht einen Schuß Leichtsinn, um damit umzugehen. Man muß Till Eulenspiegel und François Rabelais einmal über Marx (und auch Eisenstein) hinwegziehen lassen, um eine Verwirrung zu erhalten, durch die sich Erkenntnisse und Emotionen neu verbinden.
Der Plan
Erschöpft saß er da. Wir schreiben den 12. Oktober 1927. Am Tag zuvor hat er die Dreharbeiten für seinen Film Oktober abgeschlossen. Er sitzt auf 60 000 Metern Material, d. h., er verfügt über 29 Stunden belichtetes Filmnegativ. Das muß er nun sortieren und kürzen. Die Anstrengung, einen Film zu drehen, ist geringfügig gegenüber der Strapaze, ihn zu montieren. Sergej Eisenstein steht also vor einem BERG VON ARBEIT. An diesem Abend beschließt er, Das Kapital "nach dem Szenario von Karl Marx“ zu verfilmen. Mit „Szenarium“ meint er das Buch selbst. In den folgenden zwei Jahren verfolgte Eisenstein diesen Plan, den ihm keiner finanzieren wollte: das Zentralkomitee nicht, der Gaumont-Filmverleih in Paris und die Tycoons in Hollywood ebenfalls nicht. Am 30. November 1929 sitzt er in Paris James Joyce gegenüber. Joyce, praktisch blind, spielt ihm auf dem Grammophon seine Lesung aus Ulysses vor; selbst kann er nicht mehr lesen. Eisenstein will entweder – parallel zu Das Kapital – Joyce' Buch verfilmen oder aber Das Kapital nach der literarischen Methode des Ulysses umsetzen.
„KINEMATOGRAFISCH IST JENER FILM, DESSEN SUJET SICH IN ZWEI WÖRTERN WIEDERGEBEN LÄSST.“
Ein imaginärer Steinbruch: Eisensteins Forderungen an den „neuen Film“
Ich sehe den großartigen Plan Eisensteins, Das Kapital zu verfilmen, als eine Art IMAGINÄREN STEINBRUCH. Man kann darin Bruchstücke finden, man kann aber auch entdecken, daß darin überhaupt nichts zu finden ist. „Das Unverfilmte kritisiert das Verfilmte“.
Ein solch respektvoller Umgang mit den Plänen eines Meisters wie Eisenstein ähnelt den Grabungen auf einer antiken Fundstelle; man erfährt mehr über sich selbst, als man an Scherben und Schätzen findet. Es fällt auf, daß die besten Marx-Texte ganz ähnlich unter Massen von historischem Geröll verbuddelt sind. Gräbt man danach, stößt man vor allem auf Werkzeuge. Die analytischen Gerätschaften und Maschinen, die der Theorieingenieur Marx baute, sind von äußerster Seltenheit. Noch verblüffender sind jedoch die Vorschläge, die Sergej Eisenstein in seinen Notaten für die Zukunft des Filmemachens macht:
• Er schlägt vor, die lineare Handlung völlig aufzugeben. Es sei, sagt er, notwendig, Filme wie Kugeln (also wie Sterne und Planeten, die sich in einem Raum frei bewegen und aus deren Gravitation „kugelförmige Dramaturgien“ entstehen) herzustellen. Und Kugelbücher! Das wären in der Praxis gigantische Kommentarwerke, ähnlich dem Babylonischen Talmud.
• Man müsse, so Eisenstein weiter, die filmische Montage ersetzen, indem man Wirkungen nachahmt, die den Obertönen in der Musik entsprechen. Bilder, die simultane Geschehnisse, Gleichzeitigkeiten im Kopf des Zuschauers anregen, d.h. auf die Vielfalt, die solche Menschenköpfe von sich aus hervorbringen, mit den Mitteln des Films antworten. Wie in der seriellen modernen Musik, z. B. in Zwölftonkompositionen, befestigt Eisenstein die Autonomie des Zuschauers (gegenüber der Überredungswucht des Films) und die des Materials (gegenüber dessen Verarbeitung durch den Kunstverstand). Menschen, sagt Eisenstein, sind nicht einfach, sondern komplex.
• Warum, fragt Eisenstein unter dem Leidensdruck, aus 60 000 Metern ihm teuren Rohmaterials 2000 Meter Gebrauchsfilm montieren zu müssen, gibt es keine Vorführungen der Rohmaterialien selbst? Wahr ist, daß solche Vorführungen, wann immer man sie in der Filmgeschichte versucht hat, große Erfolge wurden. Aber wie selten geschah das! Wie viel interessanter als die Rhythmusvorlage Symphonie einer Großstadt von Walter Ruttmann wäre für uns das unverschnittene, vollständige Originalmaterial, ein Spiegel des Berlins von 1927? Das Kino, behauptet Eisenstein, werde mißverstanden als Treibhaus der Wahrnehmung. Man müsse jedoch zurück zu einer extensiven Landwirtschaft der Erfahrung.
Wir erleben heute die Inflationierung der wirklichen Verhältnisse. Das Objektive wächst uns über den Kopf, aber wir haben auch Grund, uns vor den Massen an Subjektivem, das dem Bewußtsein entkommen ist, zu fürchten. Mit der Methode und dem Anspruch von Marx ist es gefährlich, sich im Jahr 2013 dieser Wirklichkeit auszusetzen: Man wird mutlos. Man braucht einen Schuß Leichtsinn, um damit umzugehen. Man muß Till Eulenspiegel und François Rabelais einmal über Marx (und auch Eisenstein) hinwegziehen lassen, um eine Verwirrung zu erhalten, durch die sich Erkenntnisse und Emotionen neu verbinden.
„DIE UTOPIE WIRD IMMER BESSER, WÄHREND WIR AUF SIE WARTEN“
Wieso „ideologische Antike“?
Jede Gegenwart (weil sie praktisch ist) braucht eine Theorie. Geeignet sind dafür Bezugspunkte, die außerhalb des gegenwärtigen Geschehens liegen.
An den Küsten Europas gab es Strandräuber. Sie rückten die Leuchtfeuer, an denen die Seeleute sich orientierten, so um, daß die Schiffe scheiterten und sie die Fracht an sich bringen konnten. Für die Seefahrt ist die Navigation nach den Sternen besser. Sie sind unverrückbar. Es war in der Antike üblich, die Helden (z. B. Herkules) an den Sternenhimmel zu versetzen.
Was sind überhaupt Bilder? Sind Schriften Bilder? Wenn etwas mündlich erzählt wird, welche Bilder werden dann im Zuhörer wachgerufen? Der Film entsteht im Kopf des Zuschauers. Und zwar in einem vollbesetzten Kinosaal, in dem Menschen aufeinander reagieren, einer Filmöffentlichkeit. Öffentlichkeit und Autonomie der Bilder (sie gehören den Menschen selbst) sind Tatsachen, mit denen der Filmemacher umgehen können muß. Es ist deshalb falsch, wenn das Bild auf der Leinwand dem Zuschauer die eigenen Bilder wegnimmt. Assoziation, Fragmentierung, Lücken sind angesagt, die eine Wechselwirkung zwischen Zuschauer und Film ermöglichen. Insofern enthalten gerade die Schriften, wie sie für die Stummfilme typisch sind, starke „Bild“-Anreize. Umgekehrt gibt es Bilder, die der Zuschauer wie Texte „verstehen“ und quasi nachlesen kann. Was sind überhaupt Bilder? In dem berühmten Schematismus-Kapitel der Kritik der reinen Vernunft wundert sich Immanuel Kant, daß alle Menschen einen Begriff vom Hund haben (er nennt das den „transzendentalen Hund“), obwohl es doch für die verschiedenen Hunderassen (vom Pekinesen bis zum Bernhardiner) kein gemeinsames Bild gebe. Es heißt, „Gedanken ohne Inhalt sind leer, Anschauungen ohne Begriffe sind blind“. |