Mein Vater war Theaterarzt
Mein Vater war Theaterarzt am Stadttheater Halberstadt. Es gab keine Opernpremiere, die er nicht besuchte. Von Beruf war er Arzt und Geburtshelfer. So geschah es gelegentlich, daß eine dringende Geburt gemeldet wurde, während er in der Oper saß. Ich hatte dann als Kind die Aufgabe, ihn als laufender Bote zu benachrichtigen und aus der Oper herauszuholen. Das Hineinschleichen in den geheimnisvollen Raum und die Bewegung zu seinem Sitzplatz hin in der Reihe 3, umgeben von Tönen und verwirrt von der Handlung auf der Bühne, sind meine ersten Eindrücke; es geht um Licht und um Töne. Ich habe nichts von solcher Oper verstanden, aber diese „Einblicke“ sind entscheidend dafür, daß ich zeitlebens nicht nur Opern höre, sondern in literarischen Arbeiten und in Filmen auf den Attraktor Oper zu antworten versuche.
Mein Vater war Theaterarzt am Stadttheater Halberstadt. Es gab keine Opernpremiere, die er nicht besuchte. Von Beruf war er Arzt und Geburtshelfer. So geschah es gelegentlich, daß eine dringende Geburt gemeldet wurde, während er in der Oper saß. Ich hatte dann als Kind die Aufgabe, ihn als laufender Bote zu benachrichtigen und aus der Oper herauszuholen. Das Hineinschleichen in den geheimnisvollen Raum und die Bewegung zu seinem Sitzplatz hin in der Reihe 3, umgeben von Tönen und verwirrt von der Handlung auf der Bühne, sind meine ersten Eindrücke; es geht um Licht und um Töne. Ich habe nichts von solcher Oper verstanden, aber diese „Einblicke“ sind entscheidend dafür, daß ich zeitlebens nicht nur Opern höre, sondern in literarischen Arbeiten und in Filmen auf den Attraktor Oper zu antworten versuche.
Auf jeden Toten eine Torte.
Edouard de Scaramberg in der kalorienstärksten Heldenrolle der Opernwelt
Der körperlich verfressenste Held in der Weltliteratur heißt: Sir John Falstaff. Nach Shakespeares Vorlage hat Giuseppe Verdi aus dem Stoff eine tragische Oper komponiert: Das Ende eines Heimkehrers. Kammersänger Edouard de Scaramberg spricht über diese Rolle, die ihn weltberühmt machte.
Kluge: Herr Kammersänger, Sie singen zum achtzigsten Mal den Falstaff, und Sie sagen heute in Ihrer Presseerklärung, dies sei eines der tragischsten Stücke. Sie spielen das Stück bärbeißig, heißt es in der Kritik.
De Scaramberg: Ja, ich habe das für eine Komödie gehalten. Dabei ist es eigentlich eine komödiantische Beschreibung der totalen Ernsthaftigkeit des Friedens. Und die Situation ist doch tragisch, zumindest ist sie todernst. Denn Frieden ist natürlich für einen Kriegshelden nur eine Zwangspause zwischen zwei Kriegen.
Kluge: Es ist ein Heimkehrerschicksal. Der Mann hat in Frankreich während des Hundertjährigen Kriegs gelebt, er hat sich verausgabt, kann man das so sagen?
De Scaramberg: Ja, er hat sein Leben gelebt.
Kluge: Was hat er für einen Beruf ausgeübt?
De Scaramberg: Das, wofür er sich eigentlich geschaffen fühlte.
Kluge: Und man muß tonnenschwer sein, um die Gegner zu erschrecken, oder was ist der Grund?
De Scaramberg: Man muß nicht, aber es hilft ungeheuer, weil die physische Präsenz durch Größe und Schwere natürlich ganz anders ist, als wenn jemand spindeldürr ist. Und ein Heerführer, der was auf die Waage bringt, das ist etwas ganz anderes, als wenn irgendein Leichtgewicht daherkommt.
Kluge: Raumgreifend ...
De Scaramberg: Raumgreifend, gewichtig ...
Kluge: Sie füllen ja die Bühne aus. Man ist atemlos, wenn Sie Ihren Auftritt haben.
De Scaramberg: Ja, ja, das ergibt sich halt aus der Statur.
Kluge: Und da kommen auch die Töne her, diese Posaune?
De Scaramberg: Der Bariton ist natürlich auch genau die richtige Stimme für eine solche Figur.
Kluge: Einerseits lieblich, andererseits gewaltig?
De Scaramberg: Ja, er hat etwas von der Heldenhaftigkeit des Tenors und von der Würde des Basses.
Kluge: Und ist dennoch etwas Drittes, die Stimme eines Liebhabers, die des Vaters, eines mit Liebe erfüllten Heimkehrers.
De Scaramberg: Ja, er liebt auch das Essen, und er liebt den Krieg.
Kluge: Ein Sack voll Zuwendung. Und so ist er, wie es hier bei Shakespeare heißt, wie ein Wal an der Küste Windsors, Südenglands gestrandet. Frankreich ging es nicht gut während des Hundertjährigen Krieges, glaube ich.
De Scaramberg: Allerdings, die Engländer haben den Franzosen schon arg zugesetzt. Und auch die Jungfrau von Orléans hat da nicht viel geholfen.
Kluge: Ist der Falstaff ihr je begegnet?
De Scaramberg: Ja, kurz vor dem Prozeß hat er sie sich sozusagen mal vorführen lassen.
Kluge: Er hat aber Gnadengesuche geschrieben für sie?
De Scaramberg: Ja, er hat sich für sie verwendet, weil er das Ganze als eine unnötige Erschaffung einer Märtyrerin empfand.
Kluge: Und hat sie in seinem Zoo eingemeindet. Er führte ja eine ganze Menge von Frauen mit sich, einen ganze Troß. Er war nicht nur selber körperlich dick ...
De Scaramberg: Also ich glaube nicht, daß er ausgerechnet Johanna von Orléans in seinem Harem eingemeindet hätte, dazu war sie zu schwierig, sie hätte zu viel Ärger bereitet. Aber er hatte eben ein Herz für sie, und selbst wenn er sie nicht für sich persönlich haben wollte, hat er trotzdem nicht eingesehen, daß man sie verbrennt.
Kluge: Und dazu muß man Korpulenz haben und den Vorsitz in einer solchen Situation.
De Scaramberg: Man muß nicht unbedingt korpulent sein, aber man muß Bedeutung und Gewicht haben. Und Korpulenz kann da helfen. Es gibt natürlich auch Strategen, die durchaus korpulent waren. Soviel ich weiß, ist Cäsar nicht als korpulent zu bezeichnen, und so kann man durch die Geschichte gehen und viele hervorragende Kriegsführer finden, die nicht korpulent waren. Aber es hilft natürlich immer, und die großen Söldnerführer der Renaissance waren fast alles starke, stattliche, schwergewichtige, gestandene Mannsbilder.
Kluge: Man kam durch den Nacken bei Hinrichtungen nicht durch?
De Scaramberg: So ist es, und sie mußten sich auch, zumindest in ihrer Anfangszeit, mit physischer Kraft durchsetzen. Man wird ja nur Söldnerführer, wenn man die Umgebung erst mal mit einem Faustschlag zur Ordnung ruft. Denn wer von seinen eigenen Leuten ohne weiteres umgehauen werden kann, wird nie Führer.
Kluge: Frundsberg, von der Republik Venedig verhaftet, sollte hingerichtet werden. Er reicht seinen Nacken, das Fettpolster behindert das Schwert, und nach dem fünften Schlag war es nicht mehr möglich, denn nach venezianischem Recht hat der Henker nur fünf Versuche.
De Scaramberg: In vielen Ländern darf man überhaupt nur zwei Mal versuchen. In Amerika heute noch. Wenn es beim zweiten Versuch einen Kurzschluß auf dem Elektrischen Stuhl gibt, ist der Delinquent frei.
Kluge: Singen ist eigentlich eine Schwerstarbeit, und es gibt ja auch die Geheimnisse des Sängers.
De Scaramberg: Ja. Man singt aus dem Bauch heraus. Und man muß aufpassen, wenn sich bei den tiefen Tonlagen der Druck auf die Blase verstärkt, denn dann kann es schon mal passieren, daß eine Inkontinenz eintritt.
Kluge: Dafür gibt es Windeln.
De Scaramberg: Deswegen tragen fast alle großen Sänger Windeln, also Einlagen. Es ist ja nicht angenehm, wenn man dann so eine nasse Hose hat, vor allem, wenn sie hell ist.
Kluge: Sie können doch auch nicht essen vorher, denn Sie brauchen ja den ganzen Raum, der sich nicht mit einem vollen Magen verträgt.
De Scaramberg: Ja, richtig. Deswegen sind ja auch die Freßgelage der Sänger nach der Aufführung um Mitternacht berühmt. Ich habe ein hervorragende Assistentin, die dafür sorgt, daß es bei den feinen Empfängen, zu denen man geladen wird, nicht wieder nur diese kleinen Häppchen gibt, denn die helfen überhaupt nicht. Sie geht dann in die Küche des jeweiligen Hauses und spricht mit dem Personal und bereitet das vor, und dann kann man ganz schnell mal in die Küche witschen und dort sein Steak essen, oder auch zwei, das braucht man nämlich.
Edouard de Scaramberg in der kalorienstärksten Heldenrolle der Opernwelt
Der körperlich verfressenste Held in der Weltliteratur heißt: Sir John Falstaff. Nach Shakespeares Vorlage hat Giuseppe Verdi aus dem Stoff eine tragische Oper komponiert: Das Ende eines Heimkehrers. Kammersänger Edouard de Scaramberg spricht über diese Rolle, die ihn weltberühmt machte.
Kluge: Herr Kammersänger, Sie singen zum achtzigsten Mal den Falstaff, und Sie sagen heute in Ihrer Presseerklärung, dies sei eines der tragischsten Stücke. Sie spielen das Stück bärbeißig, heißt es in der Kritik.
De Scaramberg: Ja, ich habe das für eine Komödie gehalten. Dabei ist es eigentlich eine komödiantische Beschreibung der totalen Ernsthaftigkeit des Friedens. Und die Situation ist doch tragisch, zumindest ist sie todernst. Denn Frieden ist natürlich für einen Kriegshelden nur eine Zwangspause zwischen zwei Kriegen.
Kluge: Es ist ein Heimkehrerschicksal. Der Mann hat in Frankreich während des Hundertjährigen Kriegs gelebt, er hat sich verausgabt, kann man das so sagen?
De Scaramberg: Ja, er hat sein Leben gelebt.
Kluge: Was hat er für einen Beruf ausgeübt?
De Scaramberg: Das, wofür er sich eigentlich geschaffen fühlte.
Kluge: Und man muß tonnenschwer sein, um die Gegner zu erschrecken, oder was ist der Grund?
De Scaramberg: Man muß nicht, aber es hilft ungeheuer, weil die physische Präsenz durch Größe und Schwere natürlich ganz anders ist, als wenn jemand spindeldürr ist. Und ein Heerführer, der was auf die Waage bringt, das ist etwas ganz anderes, als wenn irgendein Leichtgewicht daherkommt.
Kluge: Raumgreifend ...
De Scaramberg: Raumgreifend, gewichtig ...
Kluge: Sie füllen ja die Bühne aus. Man ist atemlos, wenn Sie Ihren Auftritt haben.
De Scaramberg: Ja, ja, das ergibt sich halt aus der Statur.
Kluge: Und da kommen auch die Töne her, diese Posaune?
De Scaramberg: Der Bariton ist natürlich auch genau die richtige Stimme für eine solche Figur.
Kluge: Einerseits lieblich, andererseits gewaltig?
De Scaramberg: Ja, er hat etwas von der Heldenhaftigkeit des Tenors und von der Würde des Basses.
Kluge: Und ist dennoch etwas Drittes, die Stimme eines Liebhabers, die des Vaters, eines mit Liebe erfüllten Heimkehrers.
De Scaramberg: Ja, er liebt auch das Essen, und er liebt den Krieg.
Kluge: Ein Sack voll Zuwendung. Und so ist er, wie es hier bei Shakespeare heißt, wie ein Wal an der Küste Windsors, Südenglands gestrandet. Frankreich ging es nicht gut während des Hundertjährigen Krieges, glaube ich.
De Scaramberg: Allerdings, die Engländer haben den Franzosen schon arg zugesetzt. Und auch die Jungfrau von Orléans hat da nicht viel geholfen.
Kluge: Ist der Falstaff ihr je begegnet?
De Scaramberg: Ja, kurz vor dem Prozeß hat er sie sich sozusagen mal vorführen lassen.
Kluge: Er hat aber Gnadengesuche geschrieben für sie?
De Scaramberg: Ja, er hat sich für sie verwendet, weil er das Ganze als eine unnötige Erschaffung einer Märtyrerin empfand.
Kluge: Und hat sie in seinem Zoo eingemeindet. Er führte ja eine ganze Menge von Frauen mit sich, einen ganze Troß. Er war nicht nur selber körperlich dick ...
De Scaramberg: Also ich glaube nicht, daß er ausgerechnet Johanna von Orléans in seinem Harem eingemeindet hätte, dazu war sie zu schwierig, sie hätte zu viel Ärger bereitet. Aber er hatte eben ein Herz für sie, und selbst wenn er sie nicht für sich persönlich haben wollte, hat er trotzdem nicht eingesehen, daß man sie verbrennt.
Kluge: Und dazu muß man Korpulenz haben und den Vorsitz in einer solchen Situation.
De Scaramberg: Man muß nicht unbedingt korpulent sein, aber man muß Bedeutung und Gewicht haben. Und Korpulenz kann da helfen. Es gibt natürlich auch Strategen, die durchaus korpulent waren. Soviel ich weiß, ist Cäsar nicht als korpulent zu bezeichnen, und so kann man durch die Geschichte gehen und viele hervorragende Kriegsführer finden, die nicht korpulent waren. Aber es hilft natürlich immer, und die großen Söldnerführer der Renaissance waren fast alles starke, stattliche, schwergewichtige, gestandene Mannsbilder.
Kluge: Man kam durch den Nacken bei Hinrichtungen nicht durch?
De Scaramberg: So ist es, und sie mußten sich auch, zumindest in ihrer Anfangszeit, mit physischer Kraft durchsetzen. Man wird ja nur Söldnerführer, wenn man die Umgebung erst mal mit einem Faustschlag zur Ordnung ruft. Denn wer von seinen eigenen Leuten ohne weiteres umgehauen werden kann, wird nie Führer.
Kluge: Frundsberg, von der Republik Venedig verhaftet, sollte hingerichtet werden. Er reicht seinen Nacken, das Fettpolster behindert das Schwert, und nach dem fünften Schlag war es nicht mehr möglich, denn nach venezianischem Recht hat der Henker nur fünf Versuche.
De Scaramberg: In vielen Ländern darf man überhaupt nur zwei Mal versuchen. In Amerika heute noch. Wenn es beim zweiten Versuch einen Kurzschluß auf dem Elektrischen Stuhl gibt, ist der Delinquent frei.
Kluge: Singen ist eigentlich eine Schwerstarbeit, und es gibt ja auch die Geheimnisse des Sängers.
De Scaramberg: Ja. Man singt aus dem Bauch heraus. Und man muß aufpassen, wenn sich bei den tiefen Tonlagen der Druck auf die Blase verstärkt, denn dann kann es schon mal passieren, daß eine Inkontinenz eintritt.
Kluge: Dafür gibt es Windeln.
De Scaramberg: Deswegen tragen fast alle großen Sänger Windeln, also Einlagen. Es ist ja nicht angenehm, wenn man dann so eine nasse Hose hat, vor allem, wenn sie hell ist.
Kluge: Sie können doch auch nicht essen vorher, denn Sie brauchen ja den ganzen Raum, der sich nicht mit einem vollen Magen verträgt.
De Scaramberg: Ja, richtig. Deswegen sind ja auch die Freßgelage der Sänger nach der Aufführung um Mitternacht berühmt. Ich habe ein hervorragende Assistentin, die dafür sorgt, daß es bei den feinen Empfängen, zu denen man geladen wird, nicht wieder nur diese kleinen Häppchen gibt, denn die helfen überhaupt nicht. Sie geht dann in die Küche des jeweiligen Hauses und spricht mit dem Personal und bereitet das vor, und dann kann man ganz schnell mal in die Küche witschen und dort sein Steak essen, oder auch zwei, das braucht man nämlich.
Das Phänomen der Oper
Huang Tse-we ist Nomadin, sagt sie. In Tsingkiang ist die gesamte Wüstenkultur nomadisch. Nomaden haben aber, was den Kontrast zwischen LEIDENSCHAFT UND VERSTÄNDNIS betrifft, nicht die gleichen Probleme wie die seßhaften Europäer, deren Theaterhorizont die Oper charakterisiert. Daß ich vom Gefühl her überhaupt nichts von dieser Theatralik verstehe und auch die Musik nicht als „anheimelnd“ oder „vertraut“ oder gar „anvertraut“ empfinde, befähigt mich zur Analyse, sagt Huang Tse-we.
Es gibt Bariton-Opern, schreibt Huang Tse-we, Tenor-Opern, Sopran-Opern, Alt-Opern und Baß-Opern. Die Unterscheidung zwischen komisch und tragisch dagegen ergibt keine Genres. In der Überzahl sind die Bariton-Opern.
Ein Bariton kämpft für seine Tochter und verursacht dadurch ihren Tod (Rigoletto, Emilia Galotti). Ein Bariton kämpft für den Tenor und tötet dadurch den Sopran (La Traviata). Ein Bariton von besonderem Eigensinn kämpft aus zurückliegendem Anlaß und ohne Provokation in der vordergründigen Handlung gegen jedermann und verursacht multiple Todesfälle (Troubadour, Ernani).
Ein Baß tötet grundsätzlich seine Gegner. Dies geschieht z. B. durch Wotan oder den Großinquisitor in Don Carlos. Es ist mir keine Ausnahme bekannt, schreibt Huang Tse-we. Als ob die Mordlust durch die Tiefe der menschlichen Stimme zunähme. Demgegenüber erscheinen die Soprane bedroht, selbst dort, wo sie nicht singen (Die Stumme von Portici). Gegenüber der Opfermasse an Sopranen (von 86 000 Opern enden 64 000 mit dem Tod des Soprans) ist die Opferung von Tenören gering (von 86 000 Opern 1143 Tenor-Totalverluste).
Die tödliche Konsequenz scheint an den Stimmlagen der männlichen Stimmen orientiert. Als Nomadin, schreibt Huang Tse-we (auch sensibel für Gefühle der unterdrückten Tibeter), scheint mir eine solche stationäre Dramaturgie bezweifelbar. Es ist, auch für die chinesische Oper, ein Fehler, die menschliche Stimme oder die höchst willkürlichen westeuropäischen Traditionen der Orchesterstimmen zum Gradmesser zu machen. Vielmehr geht es um eine Musik der Gestalt, der Sandwüsten, des Windes, des Zentralgestirns (Sonne).
Die Habilitationsschrift erhielt eine ungenügende Bewertung. Die Alexander von Humboldt-Stiftung, die, kraft Internet-Auslosung, die KAMPFSCHRIFT DER NOMADIN mitfinanziert hatte, bedauerte die FEHLLEISTUNG.
Huang Tse-we ist Nomadin, sagt sie. In Tsingkiang ist die gesamte Wüstenkultur nomadisch. Nomaden haben aber, was den Kontrast zwischen LEIDENSCHAFT UND VERSTÄNDNIS betrifft, nicht die gleichen Probleme wie die seßhaften Europäer, deren Theaterhorizont die Oper charakterisiert. Daß ich vom Gefühl her überhaupt nichts von dieser Theatralik verstehe und auch die Musik nicht als „anheimelnd“ oder „vertraut“ oder gar „anvertraut“ empfinde, befähigt mich zur Analyse, sagt Huang Tse-we.
Es gibt Bariton-Opern, schreibt Huang Tse-we, Tenor-Opern, Sopran-Opern, Alt-Opern und Baß-Opern. Die Unterscheidung zwischen komisch und tragisch dagegen ergibt keine Genres. In der Überzahl sind die Bariton-Opern.
Ein Bariton kämpft für seine Tochter und verursacht dadurch ihren Tod (Rigoletto, Emilia Galotti). Ein Bariton kämpft für den Tenor und tötet dadurch den Sopran (La Traviata). Ein Bariton von besonderem Eigensinn kämpft aus zurückliegendem Anlaß und ohne Provokation in der vordergründigen Handlung gegen jedermann und verursacht multiple Todesfälle (Troubadour, Ernani).
Ein Baß tötet grundsätzlich seine Gegner. Dies geschieht z. B. durch Wotan oder den Großinquisitor in Don Carlos. Es ist mir keine Ausnahme bekannt, schreibt Huang Tse-we. Als ob die Mordlust durch die Tiefe der menschlichen Stimme zunähme. Demgegenüber erscheinen die Soprane bedroht, selbst dort, wo sie nicht singen (Die Stumme von Portici). Gegenüber der Opfermasse an Sopranen (von 86 000 Opern enden 64 000 mit dem Tod des Soprans) ist die Opferung von Tenören gering (von 86 000 Opern 1143 Tenor-Totalverluste).
Die tödliche Konsequenz scheint an den Stimmlagen der männlichen Stimmen orientiert. Als Nomadin, schreibt Huang Tse-we (auch sensibel für Gefühle der unterdrückten Tibeter), scheint mir eine solche stationäre Dramaturgie bezweifelbar. Es ist, auch für die chinesische Oper, ein Fehler, die menschliche Stimme oder die höchst willkürlichen westeuropäischen Traditionen der Orchesterstimmen zum Gradmesser zu machen. Vielmehr geht es um eine Musik der Gestalt, der Sandwüsten, des Windes, des Zentralgestirns (Sonne).
Die Habilitationsschrift erhielt eine ungenügende Bewertung. Die Alexander von Humboldt-Stiftung, die, kraft Internet-Auslosung, die KAMPFSCHRIFT DER NOMADIN mitfinanziert hatte, bedauerte die FEHLLEISTUNG.